Herr Tiedemanns wichtigster und einziger Schauspieler war abgesprungen. Murat, der begnadete Sänger, sein ausdrucksstarker Josef, der Alphahirte. Arno Tiedemann war nicht bereit, diesen Rückschlag kampflos hinzunehmen. Er würde mit der Mutter sprechen. So gerne er diese Mission sorgfältig vorbereitet hätte – ihm blieb keine Zeit. Leise schob er Helenes Fahrrad aus dem Gartentor und radelte Richtung Aldi. Bewaffnet mit einer Großfamilienpackung Nürnberger Lebkuchen positionierte sich Tiedemann vor der genannten Adresse.

„Dr. Frokaj“ stand an der Klingel. Es war der einzige ausländisch klingende Name, das musste es also sein. Eine Frau in grünem Wollpullover und löchriger Jeans machte auf. „Schön, dass Sie so schnell kommen konnten. Die Toilette ist gleich hier vorne.“ Entschlossen wies ihn die Frau in ein gefliestes Kabuff. Arno konnte einen raschen Blick in das Wohnzimmer werfen, Flohmarkt-Möbel, Holzboden, Ausstellungsplakate an den Wänden. Auf dem Tisch standen zwei Bildschirme und ein Laptop neben einer Bananenschale. Sie schaute ihn argwöhnisch an. „Wo sind ihre Werkzeuge?“ „Liebe Frau Frokaj, da liegt jetzt ein Missverständnis vor.“ „Sieht ganz so aus.“ Kühler Blick von oben. Die Frau in Birkenstocks war mindestens 1,80m groß. „Ich höre.“

“Mein Name ist Arno Tiedemann. Ich leite das diesjährige Krippenspiel, in dem Murat…“. „Mein Sohn nimmt nicht teil. Aus den gleichen Gründen wir im letzten Jahr, das habe ich Ihrer Vorgesetzten schon auseinandergesetzt.“ „Liebe Frau Frokaj, ich kann verstehen, dass Sie als Türkin Vorbehalte gegenüber der Kirche haben, das habe ich ja auch, aber sehen Sie…“. Die Frau lachte auf. „Türkin? Ersparen Sie mir bitte Ihre rassistischen Vorurteile. Mein Noch-Mann ist Albaner, falls Sie wissen, was das ist.“ Arno wusste, was ein Noch-Mann war, schwieg aber. Sie erhob den Zeigefinger. „Es geht mir hier ausdrücklich nicht um die Kirche als Institution! Schließlich geht Murat ja auch zum Konfirmandenunterricht – auf eigenen Wunsch, möchte ich betonen. Was ich allerdings nicht tolerieren kann, ist, dass er sein Talent und seine Zeit an ein „Theaterstück“ verschleudert, das eine derartig plakative, diskriminierende und gender-insensitive Botschaft vermittelt. Hier erfolgt ja wirklich so gar keine differenzierte Auseinandersetzung mit dem religiösen Motiv!!“ „Sie haben das Stück gelesen?“, fragte Arno entsetzt. „Selbstverständlich.“

Sie redete noch sehr lange. „… und es gäbe so viele relevante Problemfelder, hinsichtlich derer Sie sich hier in einem kritischen Diskurs positionieren könnten. Klimawandel, Impfzwang, Missbrauch in autoritären Strukturen wie der katholischen Kirche, Globalisierung, koloniale Gewalt an den Herero oder die geringe Recyclingquote, um Ihnen nur ein paar Anregungen zu geben. Aber ich bekomme leider den Eindruck, dass es Ihnen vollkommen gleichgültig ist, welche Botschaft zu Weihnachten platziert wird!“ Arno gab sich geschlagen. „Schade.“ Er hielt immer noch die Packung mit Lebkuchen in der Hand. Frau Dr. Frokaj nahm sie ihm ab, schaute auf die Rückseite, gab es zurück. „Danke, wir leben vegan.“ Die Tür ging zu.


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