Herr Tiedemann betrat die Gruft zögernd. Fünf blasse Konfirmanden und drei Konfirmandinnen, die er noch nie gesehen hatte, saßen fröstelnd um eine Wärmequelle. „Wir lassen das!“ sagte Arno beim Hereinkommen. „Keiner von uns möchte dieses Krippenspiel aufführen.“ „Nein!“ Es war ein Aufschrei, mit dem Arno nicht gerechtet hatte. Der Energy-Drink stand auf, seine Akne schien zu glühen. „Die Schäufele hat gesagt, sie konfirmiert uns nicht, wenn wir nicht auftreten! Haben Sie eine Ahnung, was da für ein finanzieller Schaden entsteht!!?“

„Die Schwäbin will ihr Weihnachtsstück? Sie soll es kriegen.“

Arno nickte. Das war es also. Dann versuchte er, einen von Helenes bösen Blicken zu imitieren. „Soso. Charlotte, ja?“ Gesenkte Blicke. „Also das war wirklich… unglaublich, ich möchte sagen regelrecht…“ Arno suchte nach dem passenden Ausdruck. Sein Blick glitt über die Gruppe. Bartflaum, Zahnspange, Skatermütze, Brille und Energy-Drink – ein betretener, erpresster Haufen Elend. Seine Truppe. „…witzig.“ hörte Arno sich den Satz beenden. „Ich wünschte, ihr wärt beim Erstellen des Stücks genauso kreativ gewesen!“. Er lachte und freute sich über die erleichterten Gesichter. „Die Schwäbin will ihr Weihnachtsstück? Sie soll es kriegen.“

„Wir machen alles wieder gut!“, versprach der Skater. „Ich mache die Maria!“ „Und wir haben Requisiten!“ Voller Stolz präsentierten sie ihre Mitbringsel. Die Wärmquelle erwies sich als Trockenhaube aus dem örtlichen Friseursalon – für’s Baby. In Ermangelung einer Krippe hatte der Brillenträger den Auffangbehälter eines Rasenmähers mit Heu gefüllt und hergeschleppt. Und eine noch originalverpackte Baby Born würde die Ehre erfahren, Jesus zu spielen. „Ich brauche die aber vor der Bescherung wieder“ quiekte der Energy-Drink.

Sie probten. Das Stück war erbärmlich. Die Jungs lasen nach wie vor ihre Texte stammelnd vom Blatt ab. Die Mädchen schauten argwöhnisch auf Scheinwerfer und Souffleusen-Stand. „Sind wir auch wirklich nicht zu sehen?“ erkundigte sich eine. „Das ist nämlich echt peinlich!“ Es war egal. Sobald Murat seine Stimme erhob und sang, war der Abend gerettet. Murat, mit seiner Ernsthaftigkeit, seiner Wärme. Es würde gut werden.

Das Stück war erbärmlich.

„Danke“, rief Arno, „bleibt gesund, wir sehen uns an Heiligabend! Bitte seid pünktlich! Und lernt euren Text!“ Die Gruppe stürmte raus. Murat blieb sitzen. „Ähm, Herr Tiedemann?“ „Ja.“ Arno fühlte sich unwohl und hoffte, der Junge mit dem Bartflaum wollte kein vertrauliches Männergespräch mit ihm führen.

„Also… ich muss leider absagen.“

„Was denn?“ wunderte sich Arno. „Ich darf nicht beim Krippenspiel mitmachen. Meine Mutter ist dagegen. Tut mir leid.“ Und damit verließ er den düsteren Raum in der gleichen Geschwindigkeit wie seine Konfikollegen. „Das ist doch nicht zu…“, murmelte Tiedemann und ließ sich in den Verkleidungsberg fallen. Er hatte – nichts.

Sie hatte es gewusst. Und nichts gesagt.

Klackernde Stiefelettenschritte. Bitte nicht jetzt. Nicht die Schwäbin. „Herr Tiedemann! Wie ist die Lage?“. Immerhin siezte sie ihn wieder. Ihr schwarzer, zeltförmiger Pullover ließ sie noch mehr wie einen Vampir aussehen als sonst. Sie setzte sich schwungvoll neben ihn in den Kleiderhaufen. „Gut. Sehr gut. Nur… Murat ist gerade abgesprungen“.

Sie setzte ihr Empathie-Gesicht auf und nickte warmherzig. „Ahammm. Das ist ja schade, Mensch, ja sowas. Genau wie letztes Jahr… und das Jahr davor. Sehr bedauerlich. Und was macht das mit Ihnen?“

Herr Tiedemann blickte sie fassungslos an. Sie hatte es gewusst. Und nichts gesagt. Er wälzte sich aus dem muffigen Textilvulkan und verließ grußlos den Saal.


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