Das Wunder.

Endlich hatte sie Hauke abgewimmelt. Wie im letzten Jahr an Heiligabend hatte er vor der Sakristei gewartet und versucht, ihr mit einem lüsternen Lächeln ein „ganz besonderes Weihnachtgeschenk“ unterzujubeln. Sie schloss die Bürotür. Jetzt hatte sie sich ihren Feierabend verdient.

Astrid Schäufele brach sich den Fingernagel am Korkenzieher ab. Großartiger Auftakt. Sie suchte in ihrer Tasche nach einem Pflaster, griff stattdessen in Papier. Der verdammte Umschlag. Der Abend konnte kaum schlimmer werden; sie konnte ihn also ebenso gut jetzt öffnen – und wegheften. Die Pastorin zog einen Ordner aus dem Regal. „Abrechnung III“ stand darauf. Reine Tarnung. Briefe, Gutachten, Formblätter, Anwaltsrechnungen harrten hier; bereit, Astrid hinterrücks zu überfallen, wenn sie nicht aufpasste. „Betr: Unfall mit Todesfolge / Fahrlässige Tötung“.

Wann würden die Briefe enden? Und wie? Sie riss das Kuvert auf.

Es konnte nicht sein. Sie überflog den Brief, verstand ihn nicht, las langsamer. Verstand ihn immer noch nicht. Sie war schuldig wie Judas. Die Frage war, ob Geld- oder Freiheitsstrafe. Und: Wie lange. Sie las erneut. “Einstellungsmitteilung. Verfahrensfehler“ So unschuldige Worte. Es war vorbei! Heute, nach drei Jahren. Sie sah das Datum. Nein, seit dem 7. Dezember. Wieso hatte sie den Brief nicht geöffnet? Hätte es etwas geändert? Astrid krallte ihre Finger in die Mitteilung. Sie presste sie gegen ihr Gesicht, roch das Papier und ihre eigene Gesichtscreme. Sie und wusste nicht wohin mit sich. Wen konnte sie anrufen? Schiefgelaufene Stiefelettensohlen rannten die Treppe hinunter.

Ihr Atem formte kleine Wölkchen im ungeheizten Kirchenschiff. Aerosole, die zu Boden sanken. Kein Mensch würde sie einatmen. Astrid Schäufele stand ganz still in der dunklen Kirche und wagte nicht, es zu sagen. Sie atmete schwer und stoßhaft. Sie sagte es nicht; es war zu profan.

Ihre Nase brannte. Die Pastorin zog schnappend die Luft ein. Ließ sich auf den knarzenden Holzboden sinken. Und, weil niemand sie hielt, hielt sie sich selbst. Astrid Schäufele weinte, bis ihr kalt wurde. Dann ging sie ins Bett.


Teile diesen Beitrag!

Bildquellen:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert