Zwei Umschläge lagen auf dem Tisch. Der eine war an den Ecken geknickt und trug Helenes kalligraphische Schnörkel. Der andere war bedruckt. Astrid las den Absender und schob den Brief rasch in ihre Mappe. Nicht jetzt. Was hatten die Tiedemanns genommen? Astrid riss den Umschlag auf und öffnete eine Excel-Tabelle auf ihrem Laptop. Sie übertrug die Werte, holte den Taschenrechner und nickte zufrieden. Die Richtung stimmte.

Astrid Schäufele kam aus Bissingen, „der“, wie sie im Kirchencafé gern lachend zu sagen pflegte, „besseren Hälfte von Bietigheim im schönen Ländle“. Dass aus Schwaben war, hätte sie nicht dazu sagen müssen. Ihr Dialekt verriet mehr als tausend Atlanten – ihre Sparsamkeit auch.

Tatsächlich tat die exotische Schwäbin in ihren abgelatschten Stiefeletten der Gemeinde gut. Gemäß ihres Mottos „Es gibt nichts Gutes, es sei denn, man tut es“, hatte sie die Gemeinde langsam und beharrlich in Bewegung versetzt. Um die Senioren zu beschäftigen, veranstaltete sie beinahe wöchentlich Benefizveranstaltungen. Für die Flüchtlinge. Für den Kinderchor. Für den Kleintierzuchtverein. Sogar den Kicker der Jugend hatte sie zugunsten der Seenotrettung versteigert. Als die Kantoren-Stelle nicht mehr finanziert werden konnte, übernahm Astrid den Chor und sang dabei so laut mit, dass sie sämtliche Querschläger übertönte. Den Traurigen hörte sie zu, die Depressiven munterte sie auf und aufmüpfige Konfirmanden schüchterte sie erbarmungslos ein.

Den Traurigen hörte sie zu, die Depressiven munterte sie auf und aufmüpfige Konfirmanden schüchterte sie erbarmungslos ein.

Die Gerüchteküche hatte natürlich geschäumt, als die breitschultrige Blondine vor drei Jahren die Pfarrstelle in Gifhorn übernommen hatte. Dass sie eine passabel bezahlte Position in der württembergischen Kirche gekündigt hatte, um sich einer „neuen beruflichen Herausforderung in einem vielfältigen, dynamischen sozio-kulturellen Umfeld“ zu stellen ( – so stand es im Gemeindebrief – ), glaubte niemand. Die Kirche war zugig, die Gemeinde so sprudelnd wie ein Schluck Morgenurin. Gifhorn war… Gifhorn. Hildegard Lükers glaubte zu wissen, dass eine romantische Verbindung Astrid ins niedersächsische Nirgendwo geführt haben musste. („Sowas vermag nur die Liebe zu vollbringen“). Andere sprachen von einer Strafversetzung. Vielleicht hatte sie vegane Maultaschen serviert? Dustin Schneider, der 13-jährige und damit jüngste Sohn der Gemeindesekretärin, berichtete, Astrid sei „in ihrem Land“ straffällig geworden und habe untertauchen müssen. Mit dieser These hatte er bei Weitem die meisten Anhänger. Denn wo konnte man besser untertauchen als in Gifhorn? Wer hier verschwand, war… weg.

Nicht weg war der Brief der Staatsanwaltschaft Stuttgart, der tonnenschwer in Astrids Schreibmappe lag.


Letztes Kapitel: Anfänger.


Teile diesen Beitrag!

Bildquellen:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert