Sobald Helene am nächsten morgen mit dem Rad zum Einkaufen gefahren war, zog Arno seine Arbeitshandschuhe an und begab sich in den Keller. Er würde mit den Altkleidern beginnen, die Helene hinter einer klapprigen Küchenanrichte bunkerte. Arno griff nach der ersten Tüte. Das Plastik war uralt, ausgeblichen und beinahe spröde unter seinen Händen. Vorsichtig öffnete er den Sack und sondierte. Eine sehr weite, türkise Damenlatzhose fiel ihm in die Hände. Hatte Helene sie je getragen? Als nächstes sah er einen Bettbezug mit Küken. „Wie kommt sie an…?“

Stapel mit Kleidern

Arno zupfte an der Unterlippe. Das alles musste weg, daran bestand kein Zweifel. Arno nahm so viele Tüten er tragen konnte, stopfte sie in einen Einkaufstrolley und zerrte diesen zum nächstgelegenen Altkleidercontainer. 700 Meter, direkt gegenüber vom Gymnasium. Das ging. Auf dem Rückweg begegnete ihm Helene. Sie hatte sich sichtbar beeilt. „Wo warst du denn?“ fragte sie ihn misstrauisch und schielte in den leeren Trolley. Arno hielt es für besser, ihr nicht von seinem Ausflug in den Keller zu berichten. „Laufen. Hast du alles gekriegt?“ Helene schaute ihn verärgert an. Er war ein grauenhafter Lügner. „Um 12 gibt es Essen. Milchreis.“

Punkt 16.00 Uhr, und nicht eine Sekunde früher, trat Arno Tiedemann in den Schlund der Hölle. Der düstere Gemeindesaal im Untergeschoss der noch düstereren Kirche war ungeheizt und provisorisch beleuchtet. Fünf frierende Gestalten saßen auf umgedrehten Cola-Kisten und blickten ihm beunruhigt entgegen.

„Hallo,“ sagte Herr Tiedemann. „Halloo“.

„Ja, dann wollen wir mal.“ Die Konfirmanden erwarteten Schlimmes. Zu Recht, glaubte Arno. Er hatte keine Ahnung, was er tun sollte. Vielleicht zuerst ein Kennenlern-Spiel? Das hatte er bei einer Fortbildung so erlebt. Leider erinnerte er sich nicht an das Spiel, er hatte sich unwohl damit gefühlt und war auf die Toilette gegangen.

„Ich bin der Herr Tiedemann. Ich bin 65 Jahre alt und wohne in Gifhorn.“ Beeindruckend. Die Jungs standen ermutigt auf, da ihre Vorstellung kaum peinlicher ausfallen konnte. „Murat.“ „Max“. „Karl-Konstantin.“ „Dustin.“ „Tobin.“ Alle waren erleichtert, die Vorstellungsrunde beendet zu haben. Herr Tiedemann hatte vor Aufregung verpasst, sich die Namen zu merken.

„Ja gut. Gehören zur Gruppe keine Mädchen?“ „Die sind auf Klo!“ wusste Dustin zu berichten. Ein schlacksiger Junge mit Zahnspange meldete sich: „Sind Sie Regisseur?“ Arno lachte entgeistert auf. „Ich bin Finanzbeamter!“ Um das nachfolgende Schweigen zu füllen, führte Herr Tiedemann aus: „Also, wenn eure Eltern ihre Steuererklärung wegschicken, dann kommt die zu uns. Und wir prüfen die und suchen nach Ungereimtheiten. Und wenn eure Eltern gelogen haben und zum Beispiel Einnahmen unterschlagen haben, dann kriegen wir das raus. Dann kommen unsere Außendienstler und machen eine Steuerfahndung. Und dann kommen eure Eltern ins Gefängnis. Zum Beispiel.“

Die Gruppe schaute ihn ausdruckslos an. „Das ist eine stark vereinfachte Darstellung, würde ich sagen“, meinte ein Junge mit feuriger Akne im Gesicht und einem Energy-Drink in der Hand. (Max? Karl-Konstantin?) „Wie wollen sie das Weihnachtsstück inszenieren, wenn sie offensichtlich keine Erfahrung haben?“ Das besorgte Gesicht mit Bartflaum musste zu Murat gehören. Guter Punkt. „Wir erarbeiten das gemeinsam. Was brauchen wir? Ich schreibe eine Liste.“ „Ein Stück. Schauspieler. Requisiten. Bühnenbild. Licht…“ zählte der Bartflaum auf. „Sehr gut!“ rief Tiedemann. Du und du, ihr besorgt ein Stück. („Hä?“). Du und du, ihr organisiert Requisiten. Die Mädchen machen das Bühnenbild und das Licht. Entgeisterte Stille.

Alle waren erleichtert, die Vorstellungsrunde beendet zu haben. Herr Tiedemann hatte vor Aufregung verpasst, sich die Namen zu merken.

„Und was machen Sie?“ Arno überlegte. „Ich mache den Rest.“


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