Heiligmorgen

Helene war seit fast einer Stunde im Bad. Der Braten war vorbereitet, die Nordmann-Tanne stand wie eine Eins. Arno hätte sich auf das Krippenspiel vorbereiten sollen. Stattdessen saß er im Büro und las seine Liste. Ihm war schlecht, wenn er an das dachte, was er tun musste.

Thorstens Stimme rief „Jupp“, als Arno sachte an die Wohnzimmertür klopfte. „Ich möchte mit dir reden“. Thorsten hob die Augenbrauen. „Oha.“

„Ich möchte mich bei dir entschuldigen.“ Arno setzte sich unsicher auf die Sofalehne. „In den letzten Wochen ist mir einiges klar geworden. Ich… ich habe ein bisschen die Kontrolle verloren.“ Er lachte verlegen. „Und jetzt denke ich, dass das ganz gut war. Vielleicht hätte ich früher damit anfangen sollen, also, loszulassen. Auch als Vater, meine ich. Ich wollte dich schützen, damals, ich wollte alles besser machen als mein Vater. Aber das war dir wohl… keine große Hilfe beim Erwachsenwerden. Und das bedaure ich.“ Arno konnte Thorstens Blick nicht deuten. Es war auch egal. „Was ich nicht bedaure, ist dass ich dich aus dem Haus geworfen habe.“ „Ich war zwanzig und ich brauchte eure Unterstützung“ krächzte Thorsten. „Du warst ein zwanzigjähriger Drogensüchtiger, der die Schmerzmittel seiner Mutter verkauft hat“, widersprach Arno sanft. „Und darum musstest du gehen.“ Sein Blick traf Thorstens. „Und darum musst du auch jetzt gehen.“ „Was?“ Thorsten war aufgesprungen. Auch Arno erhob sich. „Ich bitte dich, zu gehen. Jetzt. Du kannst wiederkommen, wenn du clean bist und kein Geld brauchst“. Arno hatte mit heftigem Widerspruch gerechnet, einem Streit, vielleicht sogar einer Schlägerei. Doch Thorsten blickte seinen Vater kalt an, stand auf und knallte die Tür zu. Im Flur hörte er Helenes Stimme. „Wohin gehst du denn?“ „Das kannst du mal Papa fragen!“ Die Haustür fiel zu, ein Motor sprang an.

Zwei Sekunden später riss sie die Tür auf. Sie trug das enge grüne Kleid, in dem sie ein wenig wie ein schimmernder Drache aussah. „Was hast du gemacht?!“ „Helene…“ „Du gehst ihm hinterher und entschuldigst dich! Sofort!!!“ Ihre Stimme brach. Arno spürte, wie er zu schwitzen begann, klebrig und kalt. „Nein.“ Sie schnappte überrascht nach Luft. „Dann kannst du gleich mit verschwinden. Ich mache das nicht noch einmal mit.“ „Willst du nicht wenigstens…“ „Nein! WILLICHNICHT! RAUS!!“ Scharlachrote Flecken breiteten sich auf Helenes Hals aus. Arno nahm sein Jackett. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss.

„Du gehst ihm hinterher und entschuldigst dich! Sofort!!!“

„Nein.“ Sie schnappte überrascht nach Luft.

Helene stand im Flur und tastete, überwältigt von Schmerz und Wut und Wille nach etwas zum Festhalten. Ihre Hand traf auf limonengrüne Rauhfaser. Es war unerträglich, sie musste etwas tun. Bewaffnet mit einer Flasche Weißwein und einem Kanister Brennspiritus fand sie sich vor dem Container wieder.

Schrottsuppe. Helene schraubte den Kanister auf.

Der Kanister war schwer, sie musste sich Kraft antrinken, bevor es ihr gelang, ihn in den Container zu wuchten. Sie fiel hinterher, lachte über die Symbolik, und begann mit den Händen durch die Gegenstände zu fahren. Ihr Leben. Arnos Leben. Geraubt und geschichtet. Irgendwo in der Mitte trafen sich ihre Welten – Aktenordner und Glanzpapier, Elektroscherben und Babyfotos – und verschmolzen zum Mosaik ihres Lebens. Schrottsuppe. Helene schraubte den Kanister auf.

Seine Ordner lagen aufgeschlagen auf dem Müllberg, als wollten sie sich ergeben. Sie würden gut brennen. Ein Dezemberwindstoß fuhr durch hunderte Seiten dünnen Papiers; Kontoauszüge und Belege und Rechnungen und Zeugs und… Thorsten Manuel Tiedemann. Neugierig zog sie den Ordner heran. Ihr Blick huschte über den Ausdruck, Dezember 2010 – woher hatte Arno das? Helene wühlte den nächsten Ordner herbei, las und blätterte und suchte und trank – und fand. Thorsten, jedes Jahr. Arno hatte nicht losgelassen. Warum hatte er nichts gesagt?

Arno lief ohne Mantel zur Kirche. Die Luft war kühl und reinigend. Fünf nervöse und drei genervte Gesichter in der Gruft erwarteten ihn. Er lächelte. „Wir machen das.“


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