Sonntagmorgen, 11.05 Uhr. Herr und Frau Tiedemann standen vor der Kirche. Sie waren ewig nicht gemeinsam hier gewesen. Bei Thorstens Konfirmation? Arno wollte weg. Seine Beerdigungsschuhe drückten, er fror in seinem guten Anzug. Voller Grauen dachte er an den 15-Minütigen Fußmarsch nach Hause. Helene, in einen voluminösen gelben Mantel gewickelt, plauderte mit pinken Wangen. Manchmal erinnerte sie Arno an einen farbwechselnden Tintenfisch, der sich mit seinen saugnapfbesetzten Tentakeln an jedem verfügbaren Hindernis festzuhalten vermochte. In diesem Falle an Hildegard Lükers, die verschwörerisch zum verkohlten Technikraum blickte und Helene etwas von Brandstiftung zuraunte. „Wollen wir?“ fragte er.
Da fiel ein schwarzer Schatten auf Arno. Bevor er auch nur an Flucht denken konnte, hatte sie ihn in die Ecke gedrängt. Eine Pranke mit rotlackierten Nägeln umkrallte seine Hand. Verdammt. Die Schwäbin. Hatte sie herausgefunden, dass er nur 10 Cent in die Kollekte geworfen hatte? Wollte sie ihn zwingen, nächste Woche wieder zu kommen?
„HERR TIEDEMANN!“ Alle Gespräche verstummten. „Das ist ja einfach klasse! Prima! Ich wollte mich einfach ganz herzlich bei Ihnen für Ihr Engagement bedanken!“ „Oh“, machte Arno leise. Er ahnte Schreckliches. Wo war Helene? Die Schwäbin schüttelte immer noch seinen Arm und musterte ihn mit einem besitzergreifenden Blick. Sie hatte wirklich einen ausgeprägten Überbiss, fiel Arno auf.
„Also ich find‘ des ja einfach spitze, dass Sie in diesem Jahr das Krippenspiel machen wollen. Drehbuch und Regie und alles! Ich wusste gar nicht, dass Sie sich für Theater interessieren, aber Helene hat mir alles erzählt. Super!!!“ Raunen aus der umstehenden Kirchengemeinde, jemand klatschte unbeholfen zweimal und hörte peinlich beschämt sofort wieder auf.
„Oh“, machte Arno leise. Er ahnte Schreckliches. Wo war Helene?
Dies war der Moment, an dem Arno widersprechen musste. Er wusste das. Er holte Luft. Zu spät. „Jaja! Sie haben natürlich meine uneingeschränkte Unterstützung und komplette künstlerische Freiheit!“. Sie packte ihn am Ellenbogen und zog ihn Richtung Kirchenportal. „Helene hat schon erzählt, dass Sie am liebsten frei improvisieren. Da hab‘ ich auch gleich einen kleinen Überfall auf Sie vor!“ Sie wieherte so laut auf, dass Arno zusammenzuckte. Wie viel schlimmer konnte es werden? „Wegen Corona können wir’s in diesem Jahr ja nicht mit den Kindern machen.“ Gott sei Dank. Wenigstens keine Kinder. „Aber… meine Konfis sind alle geimpft! Das ist eine topfitte Truppe, ganz engagiert, genau wie Sie! Die erste Probe konnte ich für morgen arrangieren, alles wie gewünscht!“ Sie lachte ein weiteres, furchterregendes Geierlachen und stürzte sich zurück in die braungrau bemäntelte Menschenmenge.