ACHT. Von Schafen und Waffen

Am Mittwoch hatte Helene einen Zahnarzttermin. Für Arno bedeutete das: zwei Stunden freien Zugang zum Keller. Sobald die Tür ins Schloss gefallen war, stürmte Herr Tiedemann die Treppe herunter. Ihn trennten nur wenige Meter – beziehungsweise: rund 25 Kisten – von seinem Ziel, dem Router. Er hatte aufgegeben, die Beschriftungen entziffern zu wollen. Erste Kiste: Kerzenreste. Weg. Zweite Kiste: Wolle und Garne. Weg, davon gab es oben noch mindestens fünf weitere. Dritte Kiste: Teile eines Lego-Schiffs. Weg!!! Arno rannte mit seiner Beute nach oben und warf sie in den Container. Immerhin, der Bodensatz war gelegt. Ein Gefühl von Freiheit durchströmte ihn.

Helene blieb länger weg als vermutet. Arno wanderte durch das Haus. Überall Dinge; Weihnachtsdekorationen, Topfpflanzen, Fotos und Erinnerungsstücke an Ereignisse, an die er sich nur verschwommen erinnern konnte. Er setzte sich auf die Treppe und starrte zu der eingeklemmten Gardinenstange hoch. Weder ihm noch Helene war es gelungen, sie zu befreien. Wie ein Splitter war der Speer fest in ihr Haus eingetrieben.

Weder ihm noch Helene war es gelungen, die Gardinenstange zu befreien. Wie ein Splitter war der Speer fest in ihr Haus eingetrieben.

Arno beschloss, vor der Probe einen Zwischenstopp beim Citti-Imbiss einzulegen. Gestählt durch die Erfolge des Morgens und mit einer intensiven Knoblauchfahne betrat er die Theatergruft. Auch die Konfirmanden wirkten heute weniger schüchtern. „Moin. Wir haben das Stück.“ Ein Junge mit Zahnspange reichte ihm drei ausgedruckte Blätter: Marias kleines Schäfchen. „Oh… Wenn ihr das spielen wollt?“ „Es ist sehr kurz“, warb ein magerer Junge mit Skatermütze. „Fast kein Text“. „Ja. Sehr schön! Wo habt ihr das her?“ erkundigte sich Tiedemann. „Internet“.

„Gut, verteilen wir die Rollen. Wer will Josef sein?“ Der Türke meldete sich. „Ok, du. Wer macht die Maria?“ Keine Meldung. Arno fiel erst jetzt auf, dass die Mädchen wieder fehlten. „Wer macht einen Hirten? …König? …Engel?“ Keine Meldung. „Jungs, jeder von euch muss mindestens eine Rolle spielen! Also nochmal, wer macht einen Hirten?“ Alle meldeten sich, inklusive des Türken. „Sie haben gesagt mindestens eine Rolle“, verteidigte er sich. „Ja gut, dann bist du Josef und ein Hirte“, gab Arno nach. „Wer macht die Maria?“ Das Akne-Gesicht kicherte: „Das macht Charlotte!“. Die Jungs wieherten. „Gut. Und als Jesus nehmen wir eine Puppe, alle anderen Rollen streichen wir. Jeder lernt bis nächste Woche seinen Text!“ Arno war froh, die wichtigsten Rollen verteilt zu haben. Es war ein wirklich erfolgreicher Tag.

SIEBEN. Astrid

Zwei Umschläge lagen auf dem Tisch. Der eine war an den Ecken geknickt und trug Helenes kalligraphische Schnörkel. Der andere war bedruckt. Astrid las den Absender und schob den Brief rasch in ihre Mappe. Nicht jetzt. Was hatten die Tiedemanns genommen? Astrid riss den Umschlag auf und öffnete eine Excel-Tabelle auf ihrem Laptop. Sie übertrug die Werte, holte den Taschenrechner und nickte zufrieden. Die Richtung stimmte.

Astrid Schäufele kam aus Bissingen, „der“, wie sie im Kirchencafé gern lachend zu sagen pflegte, „besseren Hälfte von Bietigheim im schönen Ländle“. Dass aus Schwaben war, hätte sie nicht dazu sagen müssen. Ihr Dialekt verriet mehr als tausend Atlanten – ihre Sparsamkeit auch.

Tatsächlich tat die exotische Schwäbin in ihren abgelatschten Stiefeletten der Gemeinde gut. Gemäß ihres Mottos „Es gibt nichts Gutes, es sei denn, man tut es“, hatte sie die Gemeinde langsam und beharrlich in Bewegung versetzt. Um die Senioren zu beschäftigen, veranstaltete sie beinahe wöchentlich Benefizveranstaltungen. Für die Flüchtlinge. Für den Kinderchor. Für den Kleintierzuchtverein. Sogar den Kicker der Jugend hatte sie zugunsten der Seenotrettung versteigert. Als die Kantoren-Stelle nicht mehr finanziert werden konnte, übernahm Astrid den Chor und sang dabei so laut mit, dass sie sämtliche Querschläger übertönte. Den Traurigen hörte sie zu, die Depressiven munterte sie auf und aufmüpfige Konfirmanden schüchterte sie erbarmungslos ein.

Den Traurigen hörte sie zu, die Depressiven munterte sie auf und aufmüpfige Konfirmanden schüchterte sie erbarmungslos ein.

Die Gerüchteküche hatte natürlich geschäumt, als die breitschultrige Blondine vor drei Jahren die Pfarrstelle in Gifhorn übernommen hatte. Dass sie eine passabel bezahlte Position in der württembergischen Kirche gekündigt hatte, um sich einer „neuen beruflichen Herausforderung in einem vielfältigen, dynamischen sozio-kulturellen Umfeld“ zu stellen ( – so stand es im Gemeindebrief – ), glaubte niemand. Die Kirche war zugig, die Gemeinde so sprudelnd wie ein Schluck Morgenurin. Gifhorn war… Gifhorn. Hildegard Lükers glaubte zu wissen, dass eine romantische Verbindung Astrid ins niedersächsische Nirgendwo geführt haben musste. („Sowas vermag nur die Liebe zu vollbringen“). Andere sprachen von einer Strafversetzung. Vielleicht hatte sie vegane Maultaschen serviert? Dustin Schneider, der 13-jährige und damit jüngste Sohn der Gemeindesekretärin, berichtete, Astrid sei „in ihrem Land“ straffällig geworden und habe untertauchen müssen. Mit dieser These hatte er bei Weitem die meisten Anhänger. Denn wo konnte man besser untertauchen als in Gifhorn? Wer hier verschwand, war… weg.

Nicht weg war der Brief der Staatsanwaltschaft Stuttgart, der tonnenschwer in Astrids Schreibmappe lag.


Letztes Kapitel: Anfänger.


SECHS. Anfänger

Sobald Helene am nächsten morgen mit dem Rad zum Einkaufen gefahren war, zog Arno seine Arbeitshandschuhe an und begab sich in den Keller. Er würde mit den Altkleidern beginnen, die Helene hinter einer klapprigen Küchenanrichte bunkerte. Arno griff nach der ersten Tüte. Das Plastik war uralt, ausgeblichen und beinahe spröde unter seinen Händen. Vorsichtig öffnete er den Sack und sondierte. Eine sehr weite, türkise Damenlatzhose fiel ihm in die Hände. Hatte Helene sie je getragen? Als nächstes sah er einen Bettbezug mit Küken. „Wie kommt sie an…?“

Stapel mit Kleidern

Arno zupfte an der Unterlippe. Das alles musste weg, daran bestand kein Zweifel. Arno nahm so viele Tüten er tragen konnte, stopfte sie in einen Einkaufstrolley und zerrte diesen zum nächstgelegenen Altkleidercontainer. 700 Meter, direkt gegenüber vom Gymnasium. Das ging. Auf dem Rückweg begegnete ihm Helene. Sie hatte sich sichtbar beeilt. „Wo warst du denn?“ fragte sie ihn misstrauisch und schielte in den leeren Trolley. Arno hielt es für besser, ihr nicht von seinem Ausflug in den Keller zu berichten. „Laufen. Hast du alles gekriegt?“ Helene schaute ihn verärgert an. Er war ein grauenhafter Lügner. „Um 12 gibt es Essen. Milchreis.“

Punkt 16.00 Uhr, und nicht eine Sekunde früher, trat Arno Tiedemann in den Schlund der Hölle. Der düstere Gemeindesaal im Untergeschoss der noch düstereren Kirche war ungeheizt und provisorisch beleuchtet. Fünf frierende Gestalten saßen auf umgedrehten Cola-Kisten und blickten ihm beunruhigt entgegen.

„Hallo,“ sagte Herr Tiedemann. „Halloo“.

„Ja, dann wollen wir mal.“ Die Konfirmanden erwarteten Schlimmes. Zu Recht, glaubte Arno. Er hatte keine Ahnung, was er tun sollte. Vielleicht zuerst ein Kennenlern-Spiel? Das hatte er bei einer Fortbildung so erlebt. Leider erinnerte er sich nicht an das Spiel, er hatte sich unwohl damit gefühlt und war auf die Toilette gegangen.

„Ich bin der Herr Tiedemann. Ich bin 65 Jahre alt und wohne in Gifhorn.“ Beeindruckend. Die Jungs standen ermutigt auf, da ihre Vorstellung kaum peinlicher ausfallen konnte. „Murat.“ „Max“. „Karl-Konstantin.“ „Dustin.“ „Tobin.“ Alle waren erleichtert, die Vorstellungsrunde beendet zu haben. Herr Tiedemann hatte vor Aufregung verpasst, sich die Namen zu merken.

„Ja gut. Gehören zur Gruppe keine Mädchen?“ „Die sind auf Klo!“ wusste Dustin zu berichten. Ein schlacksiger Junge mit Zahnspange meldete sich: „Sind Sie Regisseur?“ Arno lachte entgeistert auf. „Ich bin Finanzbeamter!“ Um das nachfolgende Schweigen zu füllen, führte Herr Tiedemann aus: „Also, wenn eure Eltern ihre Steuererklärung wegschicken, dann kommt die zu uns. Und wir prüfen die und suchen nach Ungereimtheiten. Und wenn eure Eltern gelogen haben und zum Beispiel Einnahmen unterschlagen haben, dann kriegen wir das raus. Dann kommen unsere Außendienstler und machen eine Steuerfahndung. Und dann kommen eure Eltern ins Gefängnis. Zum Beispiel.“

Die Gruppe schaute ihn ausdruckslos an. „Das ist eine stark vereinfachte Darstellung, würde ich sagen“, meinte ein Junge mit feuriger Akne im Gesicht und einem Energy-Drink in der Hand. (Max? Karl-Konstantin?) „Wie wollen sie das Weihnachtsstück inszenieren, wenn sie offensichtlich keine Erfahrung haben?“ Das besorgte Gesicht mit Bartflaum musste zu Murat gehören. Guter Punkt. „Wir erarbeiten das gemeinsam. Was brauchen wir? Ich schreibe eine Liste.“ „Ein Stück. Schauspieler. Requisiten. Bühnenbild. Licht…“ zählte der Bartflaum auf. „Sehr gut!“ rief Tiedemann. Du und du, ihr besorgt ein Stück. („Hä?“). Du und du, ihr organisiert Requisiten. Die Mädchen machen das Bühnenbild und das Licht. Entgeisterte Stille.

Alle waren erleichtert, die Vorstellungsrunde beendet zu haben. Herr Tiedemann hatte vor Aufregung verpasst, sich die Namen zu merken.

„Und was machen Sie?“ Arno überlegte. „Ich mache den Rest.“


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