VIERZEHN. Ordnung

Endlich. Arno war weg und sie konnte sich ihrem Adventsprojekt widmen. Aus Moosgummi, ausgemusterten Porzellantassen, Rindenstücken und alten Buchseiten würde sie Vintage-Kerzenhalter basteln. Das hatte Helene auf Pinterest gesehen. Mit einem Pott Kaffee in der Hand betrat sie ihr Arbeitszimmer. Der neue Router blinkte sie bedrohlich an. Helene Tiedemann bemerkte sofort, dass etwas fehlte. Große Lücken klafften in ihrem Archiv. Mit Herzklopfen und zittrigen Händen zerrte sie die alte Anrichte vor und entdeckte die Katastrophe. Es war alles weg.

Helene rannte nach draußen, durchsuchte Container, fand nichts. Wie konnte er nur? Der Schmerz über den Verrat loderte in ihrer Kehle, sie konnte kaum atmen. Wie sie ihn hasste!

Wie konnte er nur? Der Schmerz über den Verrat loderte in ihrer Kehle, sie konnte kaum atmen. Wie sie ihn hasste!

Helene stürmte weiter: in Arnos Büro. Sie würde ihn mit diesem Sieg nicht davon kommen lassen! Helene riss das Fenster auf, erblickte den Container im Abgrund und wusste, was zu tun war. Systematisch nahm sie jeden dritten Aktenordner aus dem Regal und schleuderte ihn in das Metallmaul. Für die Steuerordner machte sie eine Ausnahme: Die warf sie alle weg. 1981-2021. Jede zweite Schublade entleerte sie in den Abgrund, ohne sich besser zu fühlen. Sein verdammter Computer, das Etikettiergerät und der Handstaubsauger zerbarsten beim Aufprall im Container. Der Drucker war ihr zu schwer, dafür bräuchte sie Hilfe.

Über dem Schreibtisch hingen wenige Bilder. Arno und sein einziger Freund, der schwule Steuerfahndungs-Manfred, hielten stolz ihre Teilnehmermedaillen von Firmenlauf in die Kamera. Weg. Ein Foto von Arnos Mutter in besseren Jahren. Weg. Arno mit Zwergkaninchen: Weg. Beim letzten Bild hielt sie inne. Eine wilde Helene lachte ihr ins Gesicht. Hochschwanger, mit Schneeball in der Hand, bereit zum Angriff. Arno hatte zurück gelacht, als er das Foto gemacht hatte. Und dann Nasenbluten bekommen, als der Schneeball ihn mit voller Wucht im Gesicht traf. Helenes Wut versickerte. Sie wünschte, er wäre da.  


DREIZEHN. Das Duell

Im Saal waren zehn Tische aufgestellt, je mit zwei Stühlen auf gegenüberliegenden Seiten. Auf jedem Tisch stand ein sehr kleiner Weihnachtsstern mit Glitzer darauf. „Wo sind die Pistolen?“ murmelte Arno. „Pistolen?“ Helene schaute ihren Mann erstaunt an. „Na, mit denen wir uns duellieren können.“ Zu Arnos Überraschung begann Helene zu lachen.

Die Tür des Saals öffnete sich und die Pastorin kam zusammen mit einem eisigen Luftzug hereingeweht. „Ich begrüße euch, meine Lieben! Herzlich Willkommen zu eurem Einstieg in die Gewaltfreie Kommunikation! Des wird super!!” „Wo ist denn der Referent?“ flüsterte Arno. Helene stand auf. „Wo ist der Referent?“, fragte sie laut. Astrid zwinkerte. „Hier!“ Sie zeigte mit beiden Daumen auf sich. „Ich erläutere jetzt die vier Schritte, dann dürft ihr mit eurem Partner üben!“ Sie zog ein Flipchart heran und las vor: GIRAFFENSPRACHE.

  1. Beobachten, ohne zu werten
  2. Eigene Gefühle beschreiben (Was macht das mit dir?)
  3. Bedürfnis äußern („Ich brauche…“)
  4. Bitte formulieren (Echte Bitte: Dein Gegenüber kann Ja oder Nein sagen!)

„Arno, magst du mal an einem konkreten Beispiel aus eurem Alltag mit der Helene in Giraffensprache sprechen?“. Sie baute sich bedrohlich nah vor ihm auf. „Ich? Nein.“ „Super, dass du dich traust!“. Arno schwitzte. Er wollte keinen Fehler machen. „Ähm.“ – „Nee, fang‘ bitte mit ‚Liebe Helene‘ an. Nochmal von vorn.“

„Liebe Helene.“ – „Super!!“ Arno wollte nichts weniger, als eine konkrete Situation aus seinem Alltag öffentlich mit Helene besprechen. Egal in welcher Sprache. Fieberhaft suchte er nach einem unkritischen Thema. „Liebe Helene. Letzte Woche hast du eine Gardinenstange in unserem Flur… angebracht. Das macht mich… erstaunt. Ich brauche… diese Gardinenstange nicht. Bitte… vermeide solche Situationen künftig.“ Erleichtert lehnte sich Arno zurück. Einige Teilnehmer lachten, Hildegard Lükers machte sich Notizen. Helene war knallrot angelaufen.

Erleichtert lehnte sich Arno zurück. Einige Teilnehmer lachten, Hildegard Lükers machte sich Notizen. Helene war knallrot angelaufen.

Bevor Astrid antworten konnte, zischte sie Arno an. „Du brauchst diese Gardinenstange nicht?! Du brauchst so Einiges nicht, oder? Wenn es nach dir ginge, würde ich mitsamt des ganzen Hauses verschwinden, gib‘ es doch zu!“ Das hatte Arno nicht kommen sehen. Er holte Luft, aber Helene war schneller. „Aber zum Glück bist du ja ein Experte, wenn es darum geht, ungeliebte Familienmitglieder loszuwerden!“ „Helene, das ist unfair.“ „Unfair!?“ brüllte Helene. „Unfair ist es, seinen eigenen Sohn aus dem Haus zu werfen, nur weil er einen kleinen Fehler gemacht hat!“

Astrid mischte sich ein. „Helene, also das würden wir jetzt Wolfssprache nennen, vielleicht magst du…”

“DU hältst jetzt mal dein blödes Giraffenmaul, Astrid!…” Zu Arno gewandt fauchte Helene: „Loswerden wolltest du ihn, weil er nicht in dein kontrolliertes Leben passte! Ich war halbtot und du hast mir mein Kind weggenommen!“ „Ich…“. „Das verzeihe ich dir nie.“ Sie war wieder zum Zischen übergegangen. Der Raum war in gläserne Stille getaucht. „Ich weiß“, sagte Arno leise.


ZWÖLF. Helene

Ich habe mich in Helene beim Würzen verliebt. Wir waren bei Robert und Agnes zum Essen eingeladen. Ich, Erstsemester an der Verwaltungsfachhochschule, stand mit einem billigen Rioja und einer Packung Erdnuss-Flips in der Tür, Helene war schon da. Rotes Gesicht, rote Haare, Rollkragenpullover.

Plötzlich stürmte Agnes aus dem Haus. Sie sollte die Hühner ihrer Tante füttern und hatte vergessen, die Stalltür zuzumachen. Der Fuchs. Wir blieben mit einem halbgekochten Curry zurück; Robert, Helene und ich.

Auffordernder Blick von Helene. „Wollen wir jetzt fertigkochen?“

Ich: „Wo ist denn das Rezept?“

Sie lachte zum ersten Mal an diesem Abend. Laut und lebendig. Robert schien die Küche noch nie betreten zu haben. Helene und ich durchsuchten die Schränke auf der Suche nach… ja, nach was eigentlich? Egal, Helene wusste, wonach. Dieser lächerliche Moment, als wir realisierten, dass alle Gewürze in identischen Gläsern gelagert waren! Unbeschriftet. Womöglich selbst getrocknet. Gefährlich.

Regal mit Gläsern

Ich tat – nichts. Oder doch: Ich überlegte, was zu tun sei. Diese fremde chaotische Küche war Meilenweit entfernt von meiner Komfortzone. Aber Helene, oh, Helene! Plötzlich energiegeladen öffnete sie Glas um Glas, schnupperte, probierte und würzte. Probierte wieder. Riss Schubladen auf, holte noch mehr Zutaten. Ließ alle Gläser offen auf der Arbeitsplatte stehen; das total Chaos! Das Danach war ihr egal. Sie würzte nach, rührte, schnupperte. Versunken und sprühend, wie auf einer Bühne, aber ohne es zu bemerken. Helene beherrschte Raum und Zeit.

Dass ein Mensch im Angesicht unbekannter Faktoren so mutig, nein: so angstfrei sein konnte, wie sie es war! Ich wollte die Zeit anhalten, um mit ihr im Scheinwerferlicht zu tanzen.

Da wusste ich, dass ich mich in sie verliebt hatte.