DREIUNDZWANZIG. Fehler

Arno hatte sich in sein Büro verkrochen. Alles ging zu schnell. Er öffnete die Schreibtischschublade, um Stift und Papier zu suchen. Leer. Arno ging in die Küche, wo Helene Kartoffeln in schmale Scheiben schnitt. „Hallo.“ Etwas verschämt nahm er sich einen Bleistift und schlich zurück nach oben. Er nahm ein Blatt aus dem Drucker und begann zu schreiben: Was ich als Vater gut gemacht habe / Was ich als Vater falsch gemacht habe. Dann strich er alles durch, holte ein neues Papier: Was ich als Vater gut gemacht habe / Was ich als Vater falsch gemacht habe / Was wahrscheinlich ein Fehler war. Er schrieb lange. Zwischendurch lief er auf und ab und versuchte zu rekonstruieren, welche Ordner an den jetzt leeren Stellen im Regal gestanden hatten.

Am Ende hatte er 37 Punkte aufgelistet – 25 davon in der Spalte: „Was wahrscheinlich ein Fehler war“.

  • Ich habe viel gearbeitet.
  • Ich habe Thorsten selten im Kinderwagen geschoben.
  • Ich habe mich aus vielen Themen herausgehalten.
  • Ich habe Thorstens Aufwachsen nicht hinreichend dokumentiert.
  • Ich habe Thorsten zu oft bei den Hausaufgaben geholfen.
  • Ich habe zu sehr auf Ordnung im Haus bestanden.
  • Ich habe Thorsten nicht beim Fußball angemeldet, als es wollte, weil mir die Verletzungsgefahr zu groß schien.
  • Wir haben uns nicht getraut, weitere Kinder zu bekommen.
  • Ich wollte alle Probleme von Helene fernhalten.

Er las die Liste und ergänzte: Ich habe zu spät erkannt, dass wir Hilfe brauchen.

„Wann gibt es Essen?“ hörte er Thorsten aus dem Wohnzimmer rufen. Helene antwortete irgendetwas. Es hatte mit einem Joint angefangen. Arno erinnerte sich genau an diesen Abend. Er hatte seinen Sohn von einer Party abgeholt und es sofort gerochen. Schweigend hatten sie im dunklen Auto gesessen. Jeder von ihnen hatte darauf gewartet, dass der andere reagieren würde, irgendwie. Dann waren sie schon zuhause angekommen. In den Jahren darauf folgten die Anrufe der Lehrer, später der Polizei. Kokain und noch schlimmere Sachen. Arno hatte sich gekümmert. Helene durchlief gerade die zweite Chemotherapie. Sie hätte es nicht verkraftet. Oder vielleicht doch.

Arno ging zum Mittagessen. Er freute sich, als er drei Teller auf dem Tisch stehen sah. Thorsten stellte Gläser auf den Tisch, Helene die Untersetzer. „Ich hole Sprudelwasser“, murmelte Arno. Er tappte durch den Flur, vorbei an Helm und Lederjacke. Ein zartes Summen verriet, dass ein Handy in der Außentasche steckte. Arno konnte nicht anders. Mit einer unendlich vorsichtigen, langsamen Handbewegung öffnete er den Druckknopf und zog er das Handy aus der Jacke. Schwarzgewimperte Augen huschten über das noch leuchtende Display. Schlossen sich lange. Dann steckte Arno das Handy ebenso sanft in die Tasche zurück. Er hatte zuerst Helene geliebt. Bis heute hatte sich nichts daran geändert.

Arno konnte nicht anders. Mit einer unendlich vorsichtigen, langsamen Handbewegung öffnete er den Druckknopf und zog er das Handy aus der Jacke.

Lisa: „Hast du das Geld?“
Thorsten: „Dauert noch. Ist in Arbeit ?“
Lisa: "Ok wenn du sie soweit hast dann besorgen wir uns was und dann feiern wir."  
   ?? ?“ 

Darf ich dich informieren, wenn ein neuer Beitrag erscheint? Dann registriere dich für meinen Newsletter!

ZWEIUNDZWANZIG. Thorsten

Helene und Arno rannten zur Tür. Thorsten stand davor.

Ein älterer, dickerer Thorsten, mit Fältchen in den Augenwinkeln. Aber ein Thorsten. Ihr Sohn! In der einen Hand trug er einen Motorradhelm, in der anderen eine Amaryllis in Zellophan, die er Helene unbeholfen entgegenstreckte. „Für dich.“ Helene weinte und lachte, während sie den fremden Sohn in ihre Arme zog. Arno stand im Flur und musste an Thorstens Geburt denken. 27 Stunden, Dammschnitt; dann war er da. Helene hatte der Hebamme dieses klebrige, bleiche und verquollene Stück Mensch aus der Hand gerissen, es an sich gedrückt und geküsst, getröstet. Arno hatte unbeweglich danebengestanden und ihr zugesehen. Seiner Frau, so verletzt. So bereit, zu lieben. Er hatte zuerst sie geliebt, später das Baby.  

Jetzt stand er wieder daneben. Wie hatte er diesen Moment gefürchtet und herbeigesehnt! Helene und Thorsten waren jetzt in der Küche. „Thorsten bleibt über Nacht“ sagte Helene mit roten Wangen. „Na, alles andere wäre jetzt auch kaum machbar“, sagte Arno. Es sollte scherzhaft klingen, ohne Erfolg. Sie bauten ihrem Sohn ein Bett auf dem Sofa. Das Kinderzimmer gab es nicht mehr, da befand sich jetzt Arnos Büro. Helene entschuldigte sich wortreich, während sie Decken und Kissen und die gute Batist-Bettwäsche heranschleppte. Thorsten nickte. Natürlich, da gab es das kleine Gästezimmer unter dem Dach, aber das war stickig und außerdem war Arno dort vor über sieben Jahren eingezogen.

Natürlich, da gab es das kleine Gästezimmer unter dem Dach, aber das war stickig und außerdem war Arno dort vor über sieben Jahren eingezogen.

Es war fast zwei Uhr morgens, als Arno sich in seine Dachkammer zurückzog und auf das schmale Gästebett legte. Wie ging es jetzt weiter? Er hörte pantoffelgedämpfte Schritte auf der Leiter. Helene quetschte sich neben ihren Mann auf das schmale Gästebett. Eine ganze Weile lagen sie da und starrten im Dunkel auf die Astlöcher in den Paneelen. „Er hat sich entschuldigt“, flüsterte Helene schließlich. „Das ist gut, oder?“ Arno hob den Kopf. „Wofür denn?“ „Na, für die Sache mit den Drogen und für so eine Geschichte mit der Medizin. Das wusste ich gar nicht mehr.“ Sie gluckste. „Er wird sein Asthma-Spray auf dem Schulhof verkauft haben… Armer Kerl! Er muss echt verzweifelt gewesen sein.“ Helenes Haare rochen nach warmem Kuchen. Arno wollte, dass sie blieb. Er lag ganz still. „Aber er hat es aus eigener Kraft geschafft! Er hat sich verlobt und gemeinsam wollen sie eine Beratungsstelle aufbauen, für obdachlose Kinder in Chile! Ich habe ihm schon gesagt, dass wir das natürlich unterstützen werden.“

„Er hat um Geld gebeten? Wieviel?“

Sie schwieg kurz. „Ach Arno. Fang‘ doch nicht wieder damit an.“

Sie stand auf. Das Bett quietschte jämmerlich.


EINUNDZWANZIG. Mein Freund, die Wahrheit

22.16 Uhr

Arno stieg aus dem Bus. Aufgrund von Corona-Ausfällen war der Container nicht abgeholt worden und ihr Auto immer noch gefangen. Die Türen schlossen sich zischend hinter ihm, während er auf das rot-graue Gebäude zulief. Wie oft war er durch diese Tür gegangen? Mehr als sechstausend Mal, schätzte er, Montag bis Freitag, außer im August. Das Finanzamt war seine zweite Heimat gewesen. Die meisten Fenster waren dunkel, nur die bläuliche Notbeleuchtung schummerte auf den Fluren. Er hatte keinen Plan. Er sollte nicht hier sein.

Arno Tiedemann, Finanzbeamter a.D., betrat das Gebäude. Ungehindert und andächtig lief er zu seinem alten Büro. Am Schreibtisch saß Manfred. Karohemd, Kotletten, schmierige, randlose Brille. Wie immer stand ein Glas Bonbons auf dem Tisch. Er hatte zugenommen, glaubte Arno zu bemerken.

Manfred strahlte. Herr Tiedemann stand betreten im Türrahmen.

„Arno! Also, damit habe ich jetzt nicht gerechnet!“. Manfred strahlte. Herr Tiedemann stand betreten im Türrahmen. „Was bringt dich her? Hast du was vergessen?“ Arno wand sich. „Manfred! Ja…“ Er war so ein schlechter Lügner. „Ich wollte… einfach nochmal vorbeischauen.“ Er war der schlechteste Lügner der westlichen Hemisphäre, mindestens. Auch ein Mensch mit weniger Menschenkenntnis als Manfred hätte diese dämliche Ausrede durchschaut. Sein alter Kollege schaute ihn enttäuscht an. „Ich wollte etwas nachschauen“ gab Arno zu. „Um die Zeit?“ Manfred schaltete schnell. „Du suchst deinen Sohn“, sagte er schließlich, als Arno weiter schwieg und nach geeigneten Worten stocherte. „Nach was, …sechzehn Jahren?“. „Achtzehn“, krächzte Tiedemann. „Ich will nur schauen, ob…“ „…ober er noch Steuern zahlt?“ ergänzte Manfred kalt. „Das ist gegen die Regeln und du weißt es.“ Arno nickte.

„Machst du das öfters?“. „Nur am 21. Dezember. Sein Geburtstag“. Es war die Wahrheit, zumindest teilweise. Es war auch der letzte Tag, an dem Arno seinen Sohn gesehen hatte, der 21.12.2005. Der Winter, in dem es Helene so schlecht ging und Arno realisierte, dass er etwas tun musste. Manfred stand auf, setzte sich wieder. Er atmete langsam durch seine haarigen Nasenlöcher aus, ein zögerndes Zischen voller Unwohlsein. „Mensch… das geht nicht. Wenn das rauskommt.“ „Bitte.” Arno hielt die Luft an. „Dies ist das letzte Mal, versprochen.“ Wie er sich für diesen Satz hasste. Manfred sah aus, wie ein Mensch, der gerade einen guten Freund verloren hat. Schließlich nickte er knapp. „Allerdings. Nummer?“.

Arno kannte sie auswendig. Manfred tippte, klickte, las. Am liebsten wäre Arno um den Tisch herumgegangen und hätte über seine Schulter geschaut. Er traute sich nicht. „Hmh. Bamberg. Hat dieses Jahr eine Steuererklärung eingereicht.“ Arnos hörte das Blut in seinen Ohren rauschen, er hatte das Bedürfnis, laut zu lachen. Thorsten lebte. „Schöne Weihnachten.“ Manfreds Aufforderung, zu gehen. „Ja, danke, dir auch.“ Arno ging. Sie würden sich nicht wieder sehen.

Es sah aus, als wollte sie Kindergeburtstag feiern. „Wartest du auf mich?“, fragte Arno.

Da der nächste Bus erst in 280 Minuten kam, lief Arno nachhause. Es nieselte. Durchgefroren, innen wie außen, kam er gegen Mitternacht in der Sernsteyger Straße an. Helene saß mit einer Flasche Weißwein in der Küche. Sie hatte Kuchen gebacken, Kerzen angezündet, noch mehr Deko verteilt. Es sah aus, als wollte sie Kindergeburtstag feiern. „Wartest du auf mich?“, fragte Arno.

Helene schwieg verdutzt. Langsam schüttelte sie den Kopf. „Ich glaube nicht.“ Arno presste den Daumennagel in seine Handfläche. „Du wartest auf ihn!“. „Quatsch!“. Arnos Kälte wich. Alles war zu viel. „ICH rede keinen Quatsch, ICH NICHT!“ Er näherte sein bleiches Gesicht ihrem roten. „ICH sitze nicht besoffen in meinem Mausoleum und warte seit achtzehn Jahren auf meinen verlotterten Sohn, ICH NICHT!“ Helene zuckte zurück. „Er kommt nicht zurück, verstehst du?!“ Er wurde noch lauter. Feiner Spucknebel flog ihr ins Gesicht. „Wann kapierst du das endlich?! ER KOMMT NIE! WIEDER!! ZURÜCK!!!

In diesem Moment klingelte es.