Noch neun Tage bis Weihnachten! Und noch 29 To Dos waren laut Arnos Liste zu erledigen, bevor das Weihnachtsstück vorzeigbar war. Zwei Konfirmanden hatten Dialoge erstellt und ihr Ergebnis per What’s App an die Schauspieler geschickt. Dabei hatten sie offensichtlich hemmungslos von einem anderen, etwas älteren Stück abgeschrieben. „Oh welche Gnade, er hat dich auserkoren, durch meine Maria wird der Retter geboren! Doch lieget vor uns eine Reise gar schwere, ich wünschte, dass sie alsbald zu Ende wäre!“, rezitierte der Türke mit seiner vollen Singstimme und schmachtendem Blick zu seiner imaginären Verlobten. Der Junge mit der Akne antwortete, den Blick starr aufs Handy gerichtet und ohne jegliche Betonung: „Wenn wir kein Quartier hier finden, so muss ich fürwahr auf der Straße entbinden. Wir haben gar nichts falsch gemacht und haben dennoch kein Bett für die Nacht.“ Das Lied „Mah, mah, Jesus ist da“ wollten die Jungs rappen, trauten sich aber bislang nicht, ihre Version vorzutragen.

Herr Tiedemann schaute streng in die Runde. „Es wäre wirklich gut, wenn ihr euren Text auswendig könntet. Und du, könntest du mir die Dialoge vielleicht ausdrucken?“ Der Konfirmand mit dem Energydrink starrte Arno an, als hätte dieser verlangt, auf den Mars gebeamt zu werden.

Der Konfirmand mit dem Energydrink starrte Arno an, als hätte dieser verlangt, auf den Mars gebeamt zu werden.

„Wer war nochmal für die Requisiten zuständig?“ Zwei Jungen meldeten sich. „Gut, wie ist der Stand?“ „Nicht so gut.“ „Na, dann überlegt euch bitte bis zur nächsten Probe, was man braucht, um ein Baby im Stall zu versorgen. Und besorgt es!“ Die beiden warfen sich verzweifelte Blicke zu. Arno kam langsam in seiner Rolle als Regisseur an. „Wo sind denn die Mädchen?“ wetterte er. Vor allem Charlotte müsste mal zur Probe kommen, wenn sie die Maria spielen will!“ Die Jungen grinsten verlegen. „Charlotte ist auf Klo“, sagte die Zahnspange.

„Wer war nochmal für die Requisiten zuständig?“ Zwei Jungen meldeten sich. „Gut, wie ist der Stand?“ „Nicht so gut.“

Normalerweise verließ Herr Tiedemann den finsteren Saal genauso fluchtartig wie die Konfirmanden. Doch heute wartete er noch einen Moment. Charlotte musste da sein. Schließlich fasste er sich ein Herz und ging zur Toilette. Er klopfte und lauschte. „Charlotte?“ Von drinnen war ein leises Glucksen zu hören. „Charlotte, bitte komm‘ doch mal raus. Ich möchte gerne mit dir über das Weihnachtsstück sprechen!“ Stille. Arno setzte sich auf den Boden. „Ich kann verstehen, dass du nicht auf dieser Bühne stehen möchtest. Ich fühle mich damit auch total überfordert.“ Hatte er das wirklich gesagt? Hatte er das je zu jemandem gesagt? Hinter der Tür hörte er leise Wasser rauschen. „Aber die Schwäbin, eh, die Pastorin… naja, sie hat halt keinen anderen für das Stück. Nur uns. Und Weihnachten ohne Krippenspiel, ohne Botschaft – das wäre ja auch trostlos. Darum bitte ich dich einfach um Unterstützung. Dich, und die anderen Konfirmanden. Wir werden das schon gemeinsam hinkriegen, was meinst du?“

Ermutigt von seinen eigenen Worten öffnete Arno die Tür einen Spalt. Die Toilettenkabine war leer, eine defekte Spülung erwies sich als Quelle des Rauschens. Arno trat ein und ruckelte an der Spültaste. Und dann sah er sie. Charlottes braune Haare waren zu zwei Zöpfen geflochten. Sie trug einen Schlüpfer aus Leopardenstoff, der kaum das Nötigste bedeckte. „Charlotte Schleck, Pin-Up-Girl des Jahres 2020“. „Diese verdammten, hinterhältigen…“ Arno glotzte fassungslos auf das Poster. Dann verließ er schnell die Toilette. Auf keinen Fall wollte er hier von der Vampirin erwischt werden.


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