22.16 Uhr

Arno stieg aus dem Bus. Aufgrund von Corona-Ausfällen war der Container nicht abgeholt worden und ihr Auto immer noch gefangen. Die Türen schlossen sich zischend hinter ihm, während er auf das rot-graue Gebäude zulief. Wie oft war er durch diese Tür gegangen? Mehr als sechstausend Mal, schätzte er, Montag bis Freitag, außer im August. Das Finanzamt war seine zweite Heimat gewesen. Die meisten Fenster waren dunkel, nur die bläuliche Notbeleuchtung schummerte auf den Fluren. Er hatte keinen Plan. Er sollte nicht hier sein.

Arno Tiedemann, Finanzbeamter a.D., betrat das Gebäude. Ungehindert und andächtig lief er zu seinem alten Büro. Am Schreibtisch saß Manfred. Karohemd, Kotletten, schmierige, randlose Brille. Wie immer stand ein Glas Bonbons auf dem Tisch. Er hatte zugenommen, glaubte Arno zu bemerken.

Manfred strahlte. Herr Tiedemann stand betreten im Türrahmen.

„Arno! Also, damit habe ich jetzt nicht gerechnet!“. Manfred strahlte. Herr Tiedemann stand betreten im Türrahmen. „Was bringt dich her? Hast du was vergessen?“ Arno wand sich. „Manfred! Ja…“ Er war so ein schlechter Lügner. „Ich wollte… einfach nochmal vorbeischauen.“ Er war der schlechteste Lügner der westlichen Hemisphäre, mindestens. Auch ein Mensch mit weniger Menschenkenntnis als Manfred hätte diese dämliche Ausrede durchschaut. Sein alter Kollege schaute ihn enttäuscht an. „Ich wollte etwas nachschauen“ gab Arno zu. „Um die Zeit?“ Manfred schaltete schnell. „Du suchst deinen Sohn“, sagte er schließlich, als Arno weiter schwieg und nach geeigneten Worten stocherte. „Nach was, …sechzehn Jahren?“. „Achtzehn“, krächzte Tiedemann. „Ich will nur schauen, ob…“ „…ober er noch Steuern zahlt?“ ergänzte Manfred kalt. „Das ist gegen die Regeln und du weißt es.“ Arno nickte.

„Machst du das öfters?“. „Nur am 21. Dezember. Sein Geburtstag“. Es war die Wahrheit, zumindest teilweise. Es war auch der letzte Tag, an dem Arno seinen Sohn gesehen hatte, der 21.12.2005. Der Winter, in dem es Helene so schlecht ging und Arno realisierte, dass er etwas tun musste. Manfred stand auf, setzte sich wieder. Er atmete langsam durch seine haarigen Nasenlöcher aus, ein zögerndes Zischen voller Unwohlsein. „Mensch… das geht nicht. Wenn das rauskommt.“ „Bitte.” Arno hielt die Luft an. „Dies ist das letzte Mal, versprochen.“ Wie er sich für diesen Satz hasste. Manfred sah aus, wie ein Mensch, der gerade einen guten Freund verloren hat. Schließlich nickte er knapp. „Allerdings. Nummer?“.

Arno kannte sie auswendig. Manfred tippte, klickte, las. Am liebsten wäre Arno um den Tisch herumgegangen und hätte über seine Schulter geschaut. Er traute sich nicht. „Hmh. Bamberg. Hat dieses Jahr eine Steuererklärung eingereicht.“ Arnos hörte das Blut in seinen Ohren rauschen, er hatte das Bedürfnis, laut zu lachen. Thorsten lebte. „Schöne Weihnachten.“ Manfreds Aufforderung, zu gehen. „Ja, danke, dir auch.“ Arno ging. Sie würden sich nicht wieder sehen.

Es sah aus, als wollte sie Kindergeburtstag feiern. „Wartest du auf mich?“, fragte Arno.

Da der nächste Bus erst in 280 Minuten kam, lief Arno nachhause. Es nieselte. Durchgefroren, innen wie außen, kam er gegen Mitternacht in der Sernsteyger Straße an. Helene saß mit einer Flasche Weißwein in der Küche. Sie hatte Kuchen gebacken, Kerzen angezündet, noch mehr Deko verteilt. Es sah aus, als wollte sie Kindergeburtstag feiern. „Wartest du auf mich?“, fragte Arno.

Helene schwieg verdutzt. Langsam schüttelte sie den Kopf. „Ich glaube nicht.“ Arno presste den Daumennagel in seine Handfläche. „Du wartest auf ihn!“. „Quatsch!“. Arnos Kälte wich. Alles war zu viel. „ICH rede keinen Quatsch, ICH NICHT!“ Er näherte sein bleiches Gesicht ihrem roten. „ICH sitze nicht besoffen in meinem Mausoleum und warte seit achtzehn Jahren auf meinen verlotterten Sohn, ICH NICHT!“ Helene zuckte zurück. „Er kommt nicht zurück, verstehst du?!“ Er wurde noch lauter. Feiner Spucknebel flog ihr ins Gesicht. „Wann kapierst du das endlich?! ER KOMMT NIE! WIEDER!! ZURÜCK!!!

In diesem Moment klingelte es.


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